Biographie
Was heißt es, ein Mensch zu sein? Was verbindet uns über alle Zeiten, Kontinente und Abstammungen hinweg? Antworten auf so fundamentale Fragen suchen viele in der Ergründung von Trauer und Verlust, denn schließlich ist der Tod eine Konstante, die uns allen bevorsteht. Manchem der größten Künstler der Welt diente die Trauer als Muse – sie suchten Sinn in unserem Umgang mit Verlust und in unserer Fähigkeit, Tragisches zu überwinden. Zu der Liste derer, die mit solchen Konzepten gerungen haben, gesellt sich sicherlich auch John Metcalfe, dessen überwältigendes Album "Absence" ein tiefgründiges und zugleich sehr erhebendes Nachsinnen über das darstellt, was nach dem Tod übrig bleibt und wie wir damit leben.
Metcalfe war schon immer von Musik umgeben. Als Kind hörte er seinen Vater Opern singen. Später als Oberschüler, der sich für Kraftwerk und Joy Division begeisterte, spielte er als Schlagzeuger in einer Band. Doch es war schließlich der Umzug nach Manchester, der seine künstlerische Entwicklung erst richtig in Fahrt brachte und ihn zu seiner echten Berufung führte. Er schloss sich der Kultband The Durutti Column an, die damals beim legendären Label Factory Records unter Vertrag stand. Hier geriet er in die Kreise von Tony Wilson und der Haçienda – prägende Ereignisse für seinen rebellischen Geist.
Ohne sich von den Vorgaben der klassischen Tonträgerindustrie beeindrucken zu lassen, überzeugte Metcalfe schließlich Wilson zur Gründung des bahnbrechenden Factory Classical Label, das sich aufs Aufstöbern aufregender und unkonventioneller britischer Künstler spezialisierte. Hier fand Metcalfe seine künstlerische Heimat und die Formation, die seine Musikerkarriere bestimmen sollte: das Duke Quartet. Seit nunmehr beinahe 30 Jahren gehört dieses gleichermaßen innovative und Freude spendende Quartett zur Avantgarde der zeitgenössischen britischen Musik. In Zusammenarbeit mit weltbekannten Künstlern unterschiedlichster Bereiche – von der Popmusik über Tanz bis hin zu Film, Fernsehen und Theater – verfeinerte Metcalfe seine Fertigkeiten als Producer. Heute ist er einer der nachgefragtesten Arrangeure Großbritanniens und arbeitet mit vielen der größten Namen der Musikszene zusammen.
Als Solokünstler lotet Metcalfe elektro-klassische Soundscapes und die Grenzen zwischen den Genres aus. Seine feingestimmten Kompositionen kommen zugleich sauber und gewaltig daher, sowohl was ihren Klang als auch was die Konzepte angeht, auf denen sie gründen. "Absence" ist das fünfte Album, das John Metcalfe unter seinem eigenem Namen herausbringt. Es stellt für ihn so etwas wie einen Aufbruch dar, indem er gewagte Bilder und Themen in Songstrukturen packt, die konventioneller sind als das Allermeiste, das er je geschaffen hat. Zugleich ist dieses Album sein bewegendstes und betreibt die Dekonstruktion eines Sujets, das ihn bereits seit der Kindheit in Neuseeland interessiert:
"Einige Tracks von mir waren immer schon vom Tod meines Vaters beeinflusst", sagt er. "Absence" wiederum entstand unter dem Eindruck einer ganz anderen Tragödie, des plötzlichen und völlig unerwarteten Suizids eines Freundes. Einige Monate danach begann Metcalfe mit der Verarbeitung seiner Gedanken dazu. "Das Stück sollte eigentlich gar nicht kathartisch wirken", sagt er über den Titel "Flood, Tide". "Ich habe einfach ein paar Worte aufgeschrieben, damit hat es angefangen." Zu einer beinahe geisterhaft feinen Klavierbegleitung klingt Metcalfes Stimme tieftraurig und schier untröstlich. "He lay free, gone", singt er. "This time let go / Keep him inside" Der Schmerz ist greifbar.
Das Stück ist um die Zeit seines letzten Albums "The Appearance Of Colour" von 2015 entstanden und tauchte bald in den Setlists seiner Konzerte auf. Es inspirierte ihn zu einer ganzen Reihe neuer Songs, die sich nicht direkt mit dem Tod auseinandersetzen, sondern mit der Lücke, die durch die Abwesenheit von geliebten Verstorbenen entsteht, und damit, wie wir uns an sie erinnern. Dieses Album ist chronologisch angelegt. Es erforscht die Liebesbeziehung zweier Menschen, von denen einer stirbt. "Es geht um ihre Gespräche", erklärt er. "Die imaginierten Gespräche, wenn sich jemand in den finalen, physischen Stadien des Todes befindet, wenn die Elektrizität unseren Körper verlässt. Und es geht um die letzten Gedanken dessen, der im Sterben begriffen ist und dessen, der weiterleben muss."
Metcalfes großes Verdienst ist es dabei, dass er mit "Absence" alles Rührselige und Banale umschifft und es vielmehr schafft, aus einer warmen, liebevollen Perspektive zu schreiben. "We have / so much / my love", singt Rosie Doonan beim elegischen Opener "She Feels", einer sanfte Hymne über die Erinnerung und gemeinsam gelebtes Leben. Dabei findet Metcalfe eine wunderschöne Tonlage, seine Bratsche legt sich wie ein Summen unter Doonans geisterhafte Stimme. Und gerade letztere ist es, die immer wieder herausragt, mit geradezu majestätischer Grazie, Haltung und Zuversicht.
"Es ging dabei weniger um mich als um Rosie", begründet Metcalfe die Entscheidung, auf "Absence" mit einer vollen Bandbesetzung weiterzumachen. "Ich liebe einfach ihre Stimme." Das Trio – Doonan, Ali Friend am Bass und Daisy Palmer am Schlagzeug – hat seine Kompositionen geerdet und ihnen eine reiche Textur gegeben. Man höre nur, wie Palmer "Feel The Land" zum Crescendo antreibt oder die nervöse Betriebsamkeit von "Above The Waves Of Crystal Waters" vollendet. Diese Songs sind zugleich von großer Präzision, und ihre im Vergleich zu den experimentelleren Stücken Metcalfes relativ einfache Struktur bietet jedem Instrument ausreichend Raum zum Atmen.
Selbst Metcalfes eigene Stimme klingt erhaben, wie sie neben Doonans umherschwebt und hin und wieder ausbricht. "Ich bin kein Sänger, habe keine geschulte Stimme", sagt er. "Aber sie hat etwas – ein Gefühl, eine Empfindung, die ich zu beschreiben versuche." Das gilt auch für seine Texte, die überwiegend aus schlichten, intelligent gereimten Zweizeilern bestehen. Um die genaue Bedeutung geht es dabei weniger als um die Art, wie sie dargeboten werden. "Texte sind so festlegend, und ich bin kein Dichter", erklärt er. "Ich versuche, für den Zuhörer möglichst viel offen zu lassen, damit er möglichst einen eigenen Zugang finden kann."
Und so bleibt es dem Zuhörer überlassen, die Details zu einem Puzzle zusammenzufügen. Die Beklommenheit bei der Rückkehr in ein leeres Haus in "Boats And Crosses", die Versöhnung mit dem Tod in "When They Weep" und die Erinnerungen an eine Liebe, die Kraft geben, um weiterzuleben in "See Me Through". Und bei allem setzt Metcalfe auf die Zärtlichkeit und die heilende Kraft der Liebe, wie wenn er feststellt: "The sky sings of our union" (in "Above The Waves Of Crystal Waters"). Auch der Natur kommt große Bedeutung zu: Regen, Ozeane und Sonnenlicht künden von den natürlichen Kreisläufen, die unser Leben regieren – und davon, wie machtlos wir ihnen gegenüber sind.
All diese Elemente fügen sich in "Solitude" mit geradezu niederschmetternder Kraft zusammen. Dieses Stück gehört zum Innigsten und Emotionalsten, was Metcalfe je geschrieben hat, und stellt das Herzstück von "Absence" dar. "Those eyes, those smiles / Suddenly I / Solitude", lautet der sanfte Klagesang Doonans zu schwermütigen Klavier- und geradezu quälenden Bratschenklängen und fängt damit das erdrückende Gefühl der Einsamkeit geradezu perfekt ein. Doch bei allem Bluten und allen Tränen der Protagonisten gibt es doch noch Hoffnung auf Erlösung: "I dream / Open the door". Metcalfe hat die besondere Gabe, uns auf behutsame Weise zu erinnern: Obwohl nichts für immer währt, sind wir es unseren geliebten Verstorbenen schuldig, dass wir weiterkämpfen und unser Leben leben – ihnen zu Ehren.